„Es war immer klar, dass der Prozess mit Lily Brett zusammen passieren muss, denn es ist eine Autofiktion, ihre eigene Geschichte.“ Mit diesen Worten beschreibt Regisseurin Julia von Heinz die besondere Entstehungsgeschichte ihres neuen Films „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“, der am 12. September 2024 in die Kinos kommt.
Was zunächst als private Pilgerfahrt zu den Schauplätzen der Vergangenheit beginnt, entwickelt sich zu einer komplexen Auseinandersetzung mit dem Erbe der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden. Im Zentrum der Geschichte steht Ruth Rothwax, eine New Yorkerin, die im Jahr 1991, mit ihrem verwitweten Vater Edek nach Polen reist. Der Hintergrund dieser Reise ist nicht nur das Bedürfnis, die Familiengeschichte zu erforschen, sondern auch ein tiefes, emotionales Aufeinandertreffen mit der Geschichte der jüdischen Opfer des Holocaust.
Julia von Heinz, die sich mit ihrem sozialpolitischen Blickwinkel auf das Kino einen Namen gemacht hat, hatte schon lange den Wunsch, diese Geschichte zu verfilmen. Im Interview erläutert sie, wie es zur Adaption des autobiografisch inspirierten Romans von Lily Brett kam, welche Herausforderungen die Produktion durch die Dreharbeiten in Polen mit sich brachte, wie man eine Auschwitz-Szene dreht, obwohl das Filmen in der Gedenkstätte untersagt ist, und warum sie der Meinung ist, dass Erinnerungskultur im Jahr 2024 wichtiger ist denn je.
Der Film Journalist: „Treasure - Familie ist ein fremdes Land“ ist die Adaption des Romans „Zu viele Männer“. Wie sind Sie auf das Buch gestoßen, und wann und wie war Ihnen klar, dass Sie die Geschichte gerne verfilmen würden?
Julia von Heinz: Ich war unter zwanzig, als ich den Roman das erste Mal gelesen habe, relativ kurz nachdem er ins Deutsche übersetzt wurde. Meine Mutter war Lily-Brett-Fan, hat ihre Bücher immer an mich weitergegeben. Es gibt ja Bücher, die man sofort weiter verschenkt oder verliert, aber auch solche, die man sich ins Regal stellt oder immer wieder liest, und zu denen gehörte dieses Buch. Ich war damals, als ich es gelesen habe, noch nicht in der Position zu denken, ich werde einmal Filmemacherin oder kann es eines Tages verfilmen. Aber nachdem ich Filmemacherin wurde und den Mut fand, mir vorzustellen, dass ich auch so einen Stoff verfilmen kann, habe ich Lily Brett angeschrieben. Das war 2013, da war ich Ende dreißig – viele Jahre später also.
Der Film Journalist: Jetzt ist die Romanvorlage mit rund 660 Seiten sehr umfangreich für eine Verfilmung. Wie sind Sie an die filmische Adaption herangetreten? Wo haben Sie vielleicht einen besonderen Fokus gesetzt, und was konnte im Film nicht eingebunden werden?
Julia von Heinz: Es war immer klar, dass der Prozess mit Lily Brett zusammen passieren muss, denn es ist Autofiktion, ihre eigene Geschichte. Sie hat diese Reise im Jahr 1991 mit ihrem Vater unternommen. Das heißt, wir haben uns über viele Jahre und Drehbuchfassungen hinweg damit beschäftigt und festgestellt, dass für einen Film die Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter das zentrale Thema ist, das uns durch den Film trägt. Die äußere Reise haben wir auf fünf Tage beschränkt, eine kurze einwöchige Reise durch drei Städte. Aber vor allem gibt es die innere Reise der beiden. Wir erzählen eine Heilung, wie sie aufeinander zugehen, und am Ende der Reise weiß man, dass sie nicht mehr dieselben sind wie zuvor. Um das emotional nachvollziehbar zu machen, mussten wir Subplots* und Figuren streichen. Zum Beispiel gibt es im Roman Rudolf Höß, den Lagerkommandanten, der Ruth als Geist im Hotelzimmer erscheint. Da gab es lange Zwiegespräche über moralische Fragen und Schuld. Das war für die innere und äußere Reise, die wir erzählen wollten, nicht mehr möglich. Für eine Serie könnte man das gut machen, aber für einen Kinofilm, führte es zu weit.
*Subplots sind Nebenhandlungen in einer Geschichte, die parallel zur Haupthandlung verlaufen und diese ergänzen oder vertiefen, oft indem sie zusätzliche Charaktere, Themen oder Konflikte einführen.
Der Film Journalist: Was für mich sowohl das Buch als auch den Film ausmacht, ist, dass trotz des sehr ernsten Themas eine gewisse Leichtigkeit bewahrt wird. War Ihnen dieses Stimmungs-Hybrid ebenfalls sehr wichtig, und wie war in diesem Zusammenhang die Zusammenarbeit mit Ihren beiden Hauptdarstellern?
Julia von Heinz: Sehr wichtig. Für mich macht es Lily Brett aus, wie sie mit Humor und schonungslosem Blick auf sich selbst schreibt. Ich fand das sehr modern für eine Frauenfigur – wie sie ihre inneren Kämpfe beschreibt und wie witzig das ist, wenn jemand so schonungslos auf sich selbst und die anderen blickt undurteilt. Das ist komisch und musste im Film unbedingt erhalten bleiben. Entsprechend war klar, dass wir nicht nach klassischen Dramaschauspielern suchen, sondern vielleicht nach Comedians oder Schauspielern, die zuvor Comedy gemacht haben, um diesen Ton und Rhythmus zu finden. Schon beim Poster soll erkennbar sein, dass der Film nicht nur schwer und traurig ist. Unsere Hauptdarsteller bringen das alles mit – sie stehen für Unterhaltung, die viele Ebenen hat.
Julia von Heinz (mitte) mit Lena Dunham (links) und Stephen Fry (rechts):
Der Film Journalist: „Treasure - Familie ist ein fremdes Land“ ist eine internationale Verfilmung mit englischen Schauspielern, die zu großen Teilen in Polen gedreht wurde. Wie haben Sie sich auf diese Dreharbeiten vorbereitet, und was waren die größten Herausforderungen?
Julia von Heinz: Lily Brett wünschte sich, dass die Geschichte, obwohl sie sich auf Berlin übertragen ließe, in Polen spielt – so wie sie es selbst erlebt hat, mit englischsprachigen Schauspielern. Ich hatte vorher nur in Deutschland und einmal in Israel gedreht, aber keinerlei Zugang zu Stars. Ich habe Lily gesagt, dass ich alles versuchen würde, und es war für mich ein großer Wunsch, der in Erfüllung ging. Gleichzeitig brachte es eine große Verantwortung mit sich. In Deutschland hätte ich den Film leichter erzählen können, weil ich als Deutsche aus dem Tätervolk komme. Als solche konnte ich nicht mit dem Finger auf die Polen zeigen, mit dem Vorwurf „Ihr habt Euch jüdisches Eigentum angeeignet“. Die Verantwortung für das Verbrechen liegt bei den Deutschen. Wir sind also früh nach Polen gereist, um Partner zu finden, die uns helfen würden, den Film authentisch zu erzählen – nicht schwarz-weiß, sondern mit allen Graustufen, die diese Geschichte und die moralische Komplexität der Figuren erfordert. Es war mir extrem wichtig, dass der Film aus Polen heraus entsteht.
Auch wenn es in „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ eine Szene gibt, die im Areal von Auschwitz handelt, sind Dreharbeiten von Spielfilmen auf dem Gelände ausnahmslos nicht gestattet. Auschwitz ist das verheerendste Konzentrationslager der Nationalsozialisten, in dem die industrielle Ermordung perfektioniert wurde. Es liegt in der Nähe der Stadt Oswiecim in Polen. Schätzungen zufolge wurden in Auschwitz mehr als 1,1 Millionen Menschen ermordet, überwiegend Juden, aber auch Roma, politische Gefangene, und Homosexuelle. Im Frühjahr 1945 wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit. Heute ist das Gelände ein Gedenkort, der an die Opfer des Holocausts erinnert und die Menschheit an die Verbrechen erinnert, die dort begangen wurden.
Julia von Heinz am Set von „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“:
Der Film Journalist: Wie habt ihr die Szenen in der Gedenkstätte Auschwitz gedreht und wie war die Zusammenarbeit mit dem Memorial?
Julia von Heinz: Es ist eine Gedenkstätte, aber letztlich ist es ein großer Friedhof. Die Schornsteine der Krematorien sind zusammengebrochen. Die Ziegelhaufen dieser Schornsteine liegen dort, wie sie fielen, die Asche der Ermordeten durchdringt den Boden; man läuft über Tote. Ich sage das so drastisch, weil ich es für wichtig halte, das so zu formulieren, da es sich um einen Ort handelt, auf dem ein einzigartiges Menschheitsverbrechen begangen wurde. Es ist richtig, dass dort kein Filmteam arbeiten darf – viele wollen dort drehen und deshalb ist der Ort stark geschützt. Die Leute vom Auschwitz-Birkenau Memorial haben sich frühzeitig unser Drehbuch zuschicken lassen und sind mit uns in den Dialog darüber gegangen, hatten auch teilweise Änderungswünsche und haben uns letztlich erlaubt, dass wir am Zaun außerhalb des Lagers drehen. Das heißt, der Parkplatz, den man sieht, ist der echte Parkplatz. Da durften wir im Februar in den frühen Morgenstunden kommen, als nicht viel Publikumsverkehr herrschte, weil wir nicht in den Publikumsverkehr eingreifen durften.
Denn wenn jemand an diesen entlegenen Ort fährt, um die Gedenkstätte zu besuchen, ist das nie eine spontane Entscheidung, sondern lange geplant und vorbereitet. Jemandem zu sagen „Stopp, hier sind jetzt Dreharbeiten“, geht nicht. Wann immer Besucher kamen, mussten wir zurücktreten und aufhören zu filmen. Das heißt, wir durften uns zu wenig frequentierten Zeiten am Parkplatz und am Zaun entlang aufhalten und drehen. Die Leute vom Memorial waren dabei immer an unserer Seite. Da man innen nicht drehen kann, durfte unser VFX-Team* im Einvernehmen mit dem Memorial zur echten Baracke gehen und die gesamten Hintergründe fotografieren, rundum aus allen Perspektiven. Dann haben wir auf einer Wiese in der Größe eines Fußballfeldes die halbe Baracke nachgebaut, hatten große Green-Screens** und unser VFX-Team hat in wochenlanger Arbeit die Gedenkstätte Auschwitz drumherum auferstehen lassen. Sie haben dabei großartige Arbeit geleistet und es war technisch sehr interessant.
*VFX steht für „Visual Effects“ und bezeichnet digitale Effekte, die in Filmen und TV-Produktionen verwendet werden, um visuelle Elemente zu erzeugen oder zu verändern, die in der Realität schwer oder unmöglich umzusetzen wären.
**Ein Green-Screen ist eine grüne Hintergrundfläche, die in Filmen und TV-Produktionen verwendet wird, um später per Computer andere Hintergründe oder Szenen einzufügen, die anstelle des grünen Bereichs sichtbar werden.
Julia von Heinz mit Lena Dunham am Set von „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“:
Der Film Journalist: Am 12. September 2024 wird „Treasure - Familie ist ein fremdes Land“ in die Kinos kommen. Warum finden Sie, dass dieser Film gerade jetzt zur richtigen Zeit erscheint?
Julia von Heinz: Schon beim Wort „Erinnerungskultur“ will man ja fast gähnen und einschlafen. Man denkt an Schulunterricht, an irgendwelche Dokumentationen, die im Fernsehen rauf und runterlaufen, und man spürt Abwehr. Einerseits kommt dazu noch die immer mächtiger werdende AfD, die Erinnerungskultur abschaffen will; das steht klipp und klar in ihrem Parteiprogramm*. Andererseits gibt es seit dem 7. Oktober** auch in progressiven Kulturkreisen eine Haltung, dass die Erinnerung an jüdisches Trauma und Trauer israelische Regierungspolitik rechtfertigt und deshalb nicht mehr zeitgemäß und angebracht ist. Das heißt, es wird gerade von allen Seiten die Erinnerungskultur in Frage gestellt oder angegriffen, und das ist für mich und viele andere Filmschaffende ein Grund zu sagen: Lasst uns weiter neue Formen finden, neue Narrative. Es wurden noch nicht genug Geschichten von diesem ungeheuer komplexen Verbrechen erzählt.
*Im Grundsatzprogramm der AfD steht: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“
**Am 7. Oktober 2023 griff die militant-islamistische Hamas Israel in einem groß angelegten Angriff aus dem Gazastreifen an, der zu einem schwerwiegenden Konflikt mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten führte und eine neue Eskalation im Nahostkonflikt auslöste.
Sieh jetzt den Trailer zu „Treasure - Familie ist ein fremdes Land“:
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