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Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe

Manchmal sind es die Filme, die uns am tiefsten herausfordern, die am längsten in Erinnerung bleiben. „Sterben“ von Matthias Glasner wagt es, in die dunkelsten Ecken menschlicher Beziehungen vorzudringen und enthüllt dabei eine komplexe Erzählung, die weit über den Tod hinausgeht. Ein Film, der Erwartungen bricht und Fragen hinterlässt.


Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe
Bildnachweis: © Jakub Bejnarowicz Port au Prince Schwarzweiss Senator 2024

Matthias Glasner ist bekannt für seine mutigen und kompromisslosen Werke, die sich häufig mit den Abgründen der menschlichen Existenz auseinandersetzen. Mit Filmen wie „Der freie Wille“ oder „Gnade“ hat er bereits eindrucksvoll bewiesen, dass er ein Regisseur ist, der sich nicht scheut, auch unbequeme Wahrheiten auf die Leinwand zu bringen. Glasner versteht es, komplexe psychologische Zustände mit einem feinen Gespür für Zwischentöne darzustellen. Sein neuer und achter Spielfilm „Sterben“ ist sein bisher persönlichstes Projekt, inspiriert von der Auseinandersetzung mit eigenen familiären Erfahrungen und Verlusten.


In Interviews betont Glasner, dass es ihm darum ging, die Unausweichlichkeit des Todes und die Art, wie er unser Leben formt, auf eine universelle Ebene zu heben. Dabei geht es weniger um den Tod selbst, sondern um die Frage, wie wir mit den Menschen und der Zeit umgehen, die uns noch bleibt. Premiere feierte „Sterben“ im Februar 2024 bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin, wo der Film auch im Hauptwettbewerb gezeigt wurde und auch bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Silberner Bären für das beste Drehbuch. Jetzt kommt „Sterben“ in die Kinos.


Darum geht es:


Lissy Lunies ist Mitte 70 und insgeheim froh, dass ihr dementer Mann mittlerweile in einem Pflegeheim dahinsiecht. Doch die neu gewonnene Freiheit währt angesichts ihrer eigenen Krankheiten wie Diabetes, Nierenversagen und Krebs und einer beginnenden Erblindung nur kurz. Viel Zeit bleibt auch ihr nicht mehr. Derweil arbeitet ihr Sohn Tom als Dirigent gemeinsam mit seinem depressiven besten Freund Bernard an einem neuen Werk namens „Sterben".


Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe
Bildnachweis: © Jakub Bejnarowicz Port au Prince Schwarzweiss Senator 2024

Seine Ex-Freundin Liv macht Tom kurzerhand zum Ersatzvater ihres Kindes, das eigentlich auch sein eigenes hätte sein können. Ellen, Toms Schwester, lässt sich unterdessen auf eine Affäre mit dem Zahnarzt Sebastian ein. Die beiden eint vor allem eine Sache: die Liebe zum Alkohol. Ellen will sich nicht dem System beugen und mit dem Strom schwimmen und wählt stattdessen den Rausch. Ein Familiengefüge, das zwischen Leben und Tod taumelt. Wie lange noch, bis das letzte Band reißt?


Die Rezension:


Matthias Glasners Film „Sterben“ ist ein Werk, das sich mit der existenziellen Schwere des Lebens und der unausweichlichen Konfrontation mit dem Tod auseinandersetzt, dabei jedoch die beachtliche Fähigkeit besitzt, die vermeintliche Düsternis der Thematik mit einer cleveren Leichtigkeit zu verknüpfen. Es ist gerade diese Ambivalenz, die den Film von anderen Produktionen unterscheidet, die sich der Verarbeitung familiärer Konflikte widmen oder sich mit dem Tod beschäftigen. Glasner verlässt sich nicht auf plakative Trauer oder melodramatische Ausbrüche; vielmehr entfaltet sich die Geschichte wie eine feingliedrige Komposition, in der Momente der Stille ebenso laut sprechen wie die expressiven Konfrontationen der Figuren.


Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe
Bildnachweis: © Jakub Bejnarowicz Port au Prince Schwarzweiss Senator 2024

Die Struktur des Films ist episodisch, ohne jedoch an Kohärenz einzubüßen. Vielmehr entsteht durch die in Kapitel eingeteilte Geschichte eine sich allmählich verdichtende Erkundung, die sich vor unseren Augen wie ein vielschichtiges Mosaik zusammensetzt. Tom, der Dirigent, der sich in der Musik verliert, seine Schwester Ellen, die sich den Exzessen hingibt, und ihre Mutter Lissy, deren kühle Strenge das emotionale Zentrum der Familie ausmacht – sie alle stehen exemplarisch für den Kampf, das eigene Leben mit Sinn zu füllen, während die Vergänglichkeit ständig präsent ist. Besonders bemerkenswert ist Glasners Umgang mit der Zeit innerhalb des Films. Es gibt keine lineare Progression, die den Verlauf der Handlung ordnet oder die Entwicklungen der Figuren vorhersehbar macht.


Stattdessen wird die Chronologie immer wieder aufgebrochen, wodurch sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlagern. Diese Erzählweise spiegelt nicht nur die innere Zerrissenheit der Protagonisten wider, sondern verleiht dem Film eine Form, die der Unordnung des realen Lebens in erstaunlicher Weise nachempfunden ist. Gerade diese Entscheidung, die Zuschauenden in einem Zustand ständiger Unsicherheit zu belassen, führt zu einem intensiveren Erleben der emotionalen Tiefe der Geschichte. Ein zentraler Aspekt von „Sterben“ ist die Rolle der Musik, die nicht nur als thematisches Element dient, sondern auch als narrative Struktur.


Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe
Bildnachweis: © Jakub Bejnarowicz Port au Prince Schwarzweiss Senator 2024

Die von Lorenz Dangel komponierte Sinfonie, die Tom und Bernard im Verlauf des Films zu vollenden versuchen, fungiert als Metapher für das Bemühen, dem Chaos des Lebens eine Form zu geben. Die Proben des Orchesters bieten wiederkehrende Ankerpunkte, während die Disharmonie innerhalb der Familie Lunies die Leitmelodie der Handlung bildet. Hier zeigt sich Glasners Stärke als Regisseur: Er vertraut darauf, dass nicht alle Konflikte aufgelöst werden müssen, um zu einem verständlichen Ganzen zu gelangen.


Die Kameraarbeit von Jakub Bejnarowicz trägt entscheidend zur visuellen Sprache des Films bei. Bejnarowicz setzt auf lange, statische Einstellungen, die den Figuren Raum geben, ihre Emotionen und Spannungen auszudrücken. Diese Bildsprache verzichtet auf überflüssige Bewegungen und dramatische Perspektiven, wodurch eine fast dokumentarische Nähe entsteht. In diesen unaufgeregten Bildern offenbart sich eine tiefe Verletzlichkeit der Charaktere, die es den Zuschauenden erlaubt, sich ohne sentimentale Manipulation in die Lebenswelt der Protagonisten hineinzuversetzen.


Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe
Bildnachweis: © Jakub Bejnarowicz Port au Prince Schwarzweiss Senator 2024

Die zu Höchstleistungen aufspielende Besetzung trägt dabei maßgeblich zur Wirkung des Films bei. Lars Eidinger verleiht der Figur des Tom eine beeindruckende Balance zwischen Arroganz und Verletzlichkeit, während Corinna Harfouch in der Rolle der Lissy eine kühle Präsenz mit subtilen Momenten der Zerbrechlichkeit verbindet. Lilith Stangenberg fällt durch ihre unberechenbare Darstellung der Ellen auf, die zwischen Verdrängung und Sehnsucht nach Erlösung schwankt. Diese schauspielerische Tiefe verankert die Handlung und verleiht selbst den absurderen Szenen eine unerwartete Glaubwürdigkeit. Egal, wie grotesk, wie ernst und wie schwer – die Besetzung von „Sterben“ ist meisterhaft und jeder der Hauptdarstellenden hätte einen Preis verdient.


Dennoch ist „Sterben“ kein Film, der jeden gleichermaßen faszinieren kann – dafür ist er zu eigenwillig, mit einer epischen Laufzeit von drei Stunden zu lang und schlichtweg auch zu besonders. Zudem fordert der Film in seiner konsequenten Verweigerung, einfache Antworten zu liefern, eine durchweg aktive Auseinandersetzung und bietet sich eher als Reflexionsfläche denn als Unterhaltung an. Gerade hierin liegt jedoch auch seine Größe: „Sterben“ ist ein Film, der nicht nur gesehen, sondern erlebt werden will. Ja, mit der langen Laufzeit verlangt der Film eine nicht unerhebliche Ausdauer, doch diese Länge ist nicht bloßer Selbstzweck, sondern essentieller Bestandteil der filmischen Erfahrung.


Kritik zu „Sterben“: Der schmale Grat und die Liebe
Bildnachweis: © Jakub Bejnarowicz Port au Prince Schwarzweiss Senator 2024

Glasner erlaubt seinen Charakteren, sich in voller Komplexität zu entfalten, wodurch ihre Entwicklungen nachvollziehbar bleiben und die emotionale Wirkung des Films vertieft wird. Besonders der lange Dialog zwischen Tom und Lissy, der sich als eines der dramatischen Höhepunkte entpuppt, wäre in einer kürzeren Fassung kaum mit der gleichen Intensität umsetzbar gewesen. In dieser Kombination aus formaler Strenge und emotionaler Vielschichtigkeit liegt die besondere Qualität von „Sterben“. Es ist ein Film, der die Grenzen des Erträglichen auslotet und uns gleichzeitig die Möglichkeit gibt, sich in der Konfrontation mit Verlust und Verzweiflung selbst zu erkennen.


Fazit:


„Sterben“ ist ein kompromissloses, tiefschürfendes Drama, das sich konsequent gegen einfache Lösungen sträubt. Mit einem herausragenden Ensemble, einer durchdachten visuellen Sprache und einer Erzählung, die zwischen Tragik und scharfem Humor pendelt, bietet der Film eine unvergessliche Auseinandersetzung mit der Fragilität menschlicher Beziehungen – ganz großes Kino aus Deutschland!


>>> STARTTERMIN: Ab dem 25. April 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu „Sterben“:

Genre: Drama

Produktionsjahr: 2023

Laufzeit: 182 Minuten

Altersfreigabe: FSK 16


Regie: Matthias Glasner

Drehbuch: Matthias Glasner

Besetzung: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg und viele mehr ...


Trailer zu „Sterben“:


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