„Red Rooms – Zeugin des Bösen“ taucht tief in das Darknet ein und beleuchtet das mysteriöse Phänomen der Red Rooms. Während die Tech-Welt sie als moderne Geistergeschichten abtut, fragt sich Regisseur Pascal Plante in seinem neuen Film, was passiert, wenn eine dieser Seiten tatsächlich existiert und entdeckt wird.
Bevor sich der kanadische Pascal Plante einen Namen als Filmemacher machte, war er Leistungsschwimmer. Nach seinem Studium an der Mel Hoppenheim School of Cinema der Concordia University stellte er 2011 seinen ersten Kurzfilm „La fleur de l'âge“ beim Edmonton International Film Festival vor und konnte bald darauf mit seinem Dokumentarfilm „La génération porn“ sowie seinem Spielfilmdebüt „Les faux tatouages“ bei der Berlinale auf sich aufmerksam machen. Besonders bekannt wurde er mit „Nadia, Butterfly“, einem vielfach ausgezeichneten Sportdrama über eine olympische Schwimmerin, das 2020 bei den Filmfestspielen in Cannes gefeiert wurde. Mit „Red Rooms – Zeugin des Bösen“ kommt nun der vierte Langspielfilm von Pascal Plante in die Kinos.
Darum geht es:
Kelly-Anne erwacht auf der Straße, mit nur einem Ziel vor Augen: als Erste vor dem Gericht zu stehen, um einen Platz in einem spektakulären Prozess zu ergattern. Im Zentrum steht Ludovic Chevalier, angeklagt des Mordes an drei Menschen sowie weiterer schwerer Verbrechen. Die Öffentlichkeit ist überzeugt, dass er der gesuchte Mörder ist. Kelly-Anne verfolgt jeden Prozesstermin und verbringt auch ihre Nächte mit dem Fall – bis an die Grenze der Illegalität und darüber hinaus. Doch warum ist sie so besessen von diesem Fall?
Die Rezension:
Wahre Verbrechen und das Interesse am Morbiden üben eine ungebrochene Faszination aus. Pascal Plante greift dieses Phänomen in seinem Film auf und verwebt es geschickt mit dem düsteren Mythos der sogenannten Red Rooms – jener angeblich existierenden Orte im Darknet, an denen Menschen gefoltert und getötet werden sollen, während Zuschauende gegen Geld zusehen können. Im Zentrum steht der Mordprozess, ungewöhnlich ist dabei aber eher die Perspektive: Statt einer straffen Kriminalgeschichte oder expliziten Thriller-Elementen dominiert ein psychologischer Blickwinkel.
Zunächst nimmt sich Regisseur Plante die Zeit, eine Atmosphäre aufzubauen, die sich wie ein lähmender Nebel über dem Publikum ausbreitet. Die bedächtige Kameraarbeit von Vincent Biron führt das Publikum ruhig durch den Raum, fängt die angespannte Stimmung und die Reaktionen aller Anwesenden ein – von der Anklage über die Verteidigung bis hin zu den Familien der Opfer. Diese Nähe zum emotionalen Geschehen macht die Verhandlung besonders intensiv, während sich das Geschehen langsam entfaltet. Das Thema der Schuld wird im Verlauf des Films immer wieder auf verschiedenen Ebenen beleuchtet – gesellschaftlich, rechtlich und moralisch.
Dabei zeigen die Bilder nur so viel, wie nötig, um die Spannung stetig zu steigern. Der Film schafft es, durch die Reaktionen der Umstehenden ein erschütterndes Bild zu zeichnen, ohne explizit zu werden. Denn einer der klügsten Schachzüge ist es, die Videos des Mörders nie zu zeigen. Statt blutiger Details setzt der Film auf die Wirkung des Tons: Wir hören die Schreie der Foltervideos, wie Werkzeuge qualvoll zum Einsatz kommen und die verzweifelte Angst im Angesicht des Todes. All dies erzeugt eine derart verstörende Atmosphäre, dass sie uns in ihrer emotionalen Wucht tief erschüttert und weitaus wirkungsvoller ist, als es der Einsatz expliziter Gewalt je vermag, da „Red Rooms – Zeugin des Bösen“ uns die Gewaltakte der eigenen Vorstellung überlässt.
Dominique Plante, der Bruder des Regisseurs Pascal Plante, verstärkt mit seinem Soundtrack die Spannung: Einleitend durch ein klassisches Prelude, das an Wagner erinnert, und im Verlauf mal minimalistisch, mal wuchtig, ist die musikalische Untermalung ein kunstvoller Rahmen. Protagonistin dieser Geschichte ist Kelly-Anne. Sie zeigt kaum echte Emotionen und lebt in einer durch und durch kontrollierten Umgebung; ihre Welt besteht hauptsächlich aus den Bildschirmen ihres Computers, an denen sie stundenlang recherchiert, pokert und Bitcoins bewegt. Es gibt keine Freunde, keine Verabredungen, kein soziales Leben. Der Film zeichnet das Bild einer isolierten Frau, die sich in die digitale Welt zurückgezogen hat und nur für den Gerichtsprozess zu existieren scheint.
Juliette Gariépys Verkörperung bringt die lange undurchsichtige Figur auf subtile Weise zum Ausdruck: Ihr stoisches Auftreten und die kühlen, fast mechanischen Handlungen lassen viel Raum für Spekulationen darüber, was sie überhaupt antreibt. Jeder im Gerichtssaal vermutet, dass Kelly-Anne zu Ludovics „Groupies“ gehört – Frauen, die sich zu gefährlichen Männern hingezogen fühlen und eine irrationale Faszination für Verbrecher empfinden. Solche Frauen werden in der Psychologie als Hybristophile bezeichnet: Menschen, die eine obsessive Anziehung zu verurteilten oder mutmaßlichen Verbrechern empfinden, häufig in dem Glauben, deren Unschuld beweisen zu können.
Bekannte Fälle aus der Realität sind die des Serienmörders Ted Bundy, der sogar Liebesbriefe im Gefängnis erhielt, oder auch Charles Manson, der trotz erdrückender Beweislage glorifiziert wurde. Im Film wird diese Thematik durch die Figur der Clementine greifbar, die irrational fanatisch darauf fixiert ist, Ludovic für undschuldig zu befinden. Auch die Darstellung des Angeklagten, Ludovic Chevalier, ist bemerkenswert. Statt ihn als aktiven Akteur zu inszenieren, bleibt er eine stumme Randfigur, deren Präsenz jedoch eine düstere Schwere in den Gerichtssaal bringt. Plante zeigt ihn isoliert vom Rest des Raums, in Handschellen, zusammengesunken und ohne das geringste Wort von sich zu geben. Dieser erzählerische Kniff entzieht dem Täter jede Form von Romantisierung und reduziert ihn auf die pure Bedrohung, die er darstellt. Der Fokus liegt auf den verheerenden Auswirkungen seiner Taten auf die Opfer und ihre Familien.
Anders als viele Hollywoodfilme, die Hacker und das Darknet in klischeehafter Übertreibung dramatisch überhöhen, bleibt „Red Rooms – Zeugin des Bösen“ hier erstaunlich realitätsnah und meidet die typischen Darstellungsformen. Es ist keine futuristische Hacker-Fantasie mit grün leuchtenden Zahlen auf schwarzen Bildschirmen, sondern eine recht zweckdienliche Inszenierung. Filme wie „Searching“ oder „Missing“ haben bereits gezeigt, dass das Internet als Setting für Thriller funktionieren kann und auch Plante schöpft dieses Potential mit einem Hybrid aus Screenlife-Inszenierung und Close-Ups auf die den Bildschirm betrachtenden Personen aus.
Poker wird hier zur Metapher für das Spiel, das die Figuren mit ihren eigenen Abgründen spielen. Die sogenannten „Sunk Cost Fallacy“, das Verharren in einer unvorteilhaften Situation aus Angst, bereits getätigte Investitionen zu verlieren, treibt die Figuren immer tiefer in ihre jeweilige Obsession. In Kelly-Annes Fall ist es der Prozess selbst, in den sie sich hineingezogen fühlt, ohne genau zu wissen, ob sie ihn je verlassen kann – oder will.
Fazit:
In 119 Minuten Laufzeit präsentiert Pascal Plante einen Film, der viele Genres bedient, aber im Kern ein intelligenter und stilvoller Thriller ist, der zwar keine Antworten gibt, aber sicherlich zum Nachdenken anregt. Es ist ein Film, der herausfordert und hinterfragt, eine Anklage an den Voyeurismus und die Obsession.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 7. November 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „Red Rooms – Zeugin des Bösen“:
Genre: Thriller
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 119 Minuten
Altersfreigabe: FSK 16
Regie: Pascal Plante
Drehbuch: Pascal Plante
Besetzung: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas und viele mehr ...
Trailer zu „Red Rooms – Zeugin des Bösen“:
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