Ein Drogenboss, der zur Frau wird – und das Ganze als Musical? Jacques Audiard überrascht mit seinem neuen und zehnten Spielfilm „Emilia Pérez“, der Grenzen sprengt und sich in keine Schublade stecken lässt.
Jacques Audiard, Sohn des renommierten Regisseurs Michel Audiard, wurde 1953 in Paris geboren und prägt das Kino seit Jahrzehnten. Nach Erfolgen als Drehbuchautor wagte er Mitte der 1990er Jahre den Schritt zur Regie und inszenierte Filme wie „Ein Prophet“ und „Der Geschmack von Rost und Knochen“, die sich durch ihre eindringlichen Figuren und tiefgehenden Transformationen auszeichnen. Mit „Emilia Pérez“ treibt Audiard diese Themen auf die Spitze. Die Inspiration für den Film stammt aus dem 2018 veröffentlichten französischen Roman „Écoute“ von Boris Razon. Audiard entwickelte ursprünglich ein Opernlibretto in vier Akten basierend auf einem Kapitel des Romans.
„Emilia Pérez“ feierte seine Premiere bei den 77. Filmfestspielen von Cannes im Mai 2024, wo er mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Karla Sofía Gascón erhielt gemeinsam mit Zoe Saldaña und Selena Gomez den Preis für die beste Darstellerin, was sie zur ersten offen transgeschlechtlichen Schauspielerin machte, die diese Auszeichnung in Cannes erhielt. Nun startet der Film in den deutschen Kinos.
Darum geht es:
Die brillante, aber unsichtbar gehaltene Anwältin Rita befreit Tag für Tag die gefährlichsten Kriminellen – bis ihr korrupter Chef die Lorbeeren kassiert. Doch als der gefürchtete Kartellboss Manitas del Monte sie anheuert, um aus seiner mafiösen Welt auszusteigen und endlich die Frau zu werden, die er tief im Inneren schon immer war, eröffnen sich für Rita ganz neue Perspektiven. Was beide nicht ahnen: Manitas’ Vergangenheit folgt ihren eigenen, unberechenbaren Gesetzen – und sie wird mit aller Macht zurückschlagen …
Die Rezension:
Mit seinem neuesten Werk „Emilia Pérez“ wagt Jacques Audiard ein filmisches Experiment, das bereits in seiner Prämisse alle Konventionen auf den Kopf stellt. Der Film erzählt die Geschichte eines mexikanischen Drogenbosses, der sich einer Geschlechtsanpassung unterzieht, um anschließend ein neues Leben zu beginnen – und das alles in Form eines Musicals. Die Idee, all diese teils recht ernsten Themen in ein buntes Musical zu gießen, mag auf den ersten Blick recht bizarr wirken, doch hinter der leichten Fassade offenbart sich ein vielschichtiges Werk, das weit mehr ist als bloße Genre-Exzentrik. Audiard, bekannt für seine Fähigkeit, klassische Erzählmuster zu dekonstruieren, nutzt diesen unorthodoxen Ansatz, um tiefere Fragen nach Identität, Veränderung und der Möglichkeit moralischer Erlösung zu stellen.
Audiard treibt diese hybride Herangehensweise in „Emilia Pérez“ jedoch auf die Spitze und inszenierte einen Film, das sich der einfachen Kategorisierung entzieht. Schon die Eröffnungsszenen von „Emilia Pérez“ führen auf eine falsche Fährte. Was zunächst wie ein konventioneller Thriller anmutet, entwickelt sich rasch zu einem wilden Genre-Mix, der zwischen Kriminalgeschichte, Telenovela und tragischer Oper hin- und herpendelt. Die Transformation von Manitas, einem gefürchteten Kartellboss, zur empathischen Emilia, die sich nach einem Leben in Weiblichkeit sehnt, bildet das emotionale Zentrum des Films und verleiht ihm eine selten gesehene erzählerische Dynamik.
Audiard inszeniert diese Metamorphose mit bemerkenswerter Intensität und scheut sich nicht, auch die Ambivalenzen und Widersprüche dieser Wandlung sichtbar zu machen. Denn „Emilia Pérez“ ist weit davon entfernt, eine reine Erlösungsgeschichte zu erzählen. Emilia mag sich äußerlich verändert haben, doch die Schuld ihrer Vergangenheit lastet weiterhin schwer auf ihr. Der Film stellt die Frage, ob echte Transformation möglich ist oder ob das alte Ich unauslöschlich im neuen weiterlebt. Diese Transformation ist mehr als ein persönlicher Neuanfang; sie symbolisiert den Versuch, alte Identitäten abzulegen und neue Möglichkeiten zu erschaffen.
Dennoch bleibt Audiard ambivalent: Die Frage, ob sich der Kern eines Menschen wirklich ändern kann, wird nicht abschließend beantwortet. Emilia mag äußerlich eine beeindruckende Entwicklung durchlaufen, doch ihre inneren Konflikte und die Bürde ihrer Vergangenheit bleiben zentraler Bestandteil ihrer Identität. Eine der stärksten Szenen des Films illustriert diese Dualität: Ein intimes Gespräch zwischen Emilia und ihrem Sohn, das sowohl von Reue als auch von tiefem Schmerz geprägt ist.
Hier gelingt es Audiard, durch subtile Gesten und eindringliche musikalische Untermalung, die emotionale Zerrissenheit seiner Protagonistin greifbar zu machen. Gleichzeitig wird deutlich, dass selbst die größte Transformation nicht vor den Konsequenzen vergangener Taten schützt – eine Thematik, die sich wie ein roter Faden durch Audiards gesamte Filmografie zieht. Die Entscheidung, die Identitätsfindung Emilias in Form von Musicalnummern zu begleiten, verleiht dem Film eine außergewöhnliche, fast surreale Qualität. Wo andere Filmemacher vielleicht auf ein reduziertes, introspektives Drama gesetzt hätten, entfaltet „Emilia Pérez“ eine schillernde Erzählweise, die den Schmerz der Figuren in melodische Balladen und temperamentvolle Tanznummern kanalisiert.
Die musikalischen Einlagen durchbrechen dabei bewusst die dramaturgische Linearität, was den Film zu einer emotionalen Achterbahnfahrt macht. Audiard bettet die Musiknummern organisch in die Handlung ein; statt die Erzählung zu unterbrechen, treiben sie die Handlung voran, reflektieren die inneren Konflikte der Figuren oder intensivieren die emotionale Dynamik der Szenen. Während sich dramatische Konfrontationen und intime Geständnisse in Liedform entfalten, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Gedankenwelt. Audiard setzt dabei auf einen unkonventionellen Rhythmus, der die Handlung mal antreibt, mal innehalten lässt, um sich in musikalischer Ekstase zu verlieren.
Die Musik, komponiert vom französischen Duo Clément Ducol und Camille, unterstreicht diesen Kontrast mit einer Mischung aus Chansons, perkussiven Latino-Rhythmen und orchestralen Klangwelten. Besonders beeindruckend ist, wie Audiard diese musikalischen Elemente nutzt, um die inneren Welten nheit seiner Figuren greifbar zu machen. Immer wieder gelingen der Inszenierung großartige Musical-Einlagen, die nachwirken, bei denen man im Grunde direkt mitsingen kann und trotz aller visuellen Opulenz sind die Texte nicht trivial.
Die Besetzung von „Emilia Pérez“ ist zweifellos dabei eine der größten Stärken des Films. Karla Sofía Gascón verleiht der titelgebenden Figur eine beeindruckende Präsenz, die sowohl Verletzlichkeit als auch Entschlossenheit ausdrückt. Ihre Darstellung balanciert geschickt zwischen der Überzeichnung des Musical-Genres und einer tief empfundenen Authentizität. Zoe Saldaña als Anwältin Rita, die sich widerwillig auf Emilias Seite schlägt, liefert eine ebenso einnehmende Darstellung und auch Selena Gomez kann ihre Figur in den wenigen Szenen sehr nuanciert in ihrer Ambivalenz hervorbringen.
Vor allem haben die drei Schauspielerinnen auch sehr unterschiedliche und ungemein passende Stimmfarben, die sich perfekt ergänzen und den Film mit ihren gesanglichen Einlagen beeindruckend tragen. Während man von Selena Gomez bereits wusste, dass sie gut singen kann, stechen gerade auch Karla Sofía Gascón und nicht zuletzt Zoe Saldaña heraus, die nach den „Avatar“- und „Guardians of the Galaxy“-Filmen ohne blaue bzw. grüne Alien-Kostümierung voll aus sich herausgeht und eine durchweg preiswürdige Performance abliefert.
Ihre Darbietungen geben den oft opulenten, überbordenden Szenen eine emotionale Erdung, die uns immer wieder daran erinnern, dass es hinter all den Farben und Klängen um sehr reale menschliche Erfahrungen geht. Gerade in den leiseren, intimen Momenten zeigt sich die wahre Stärke von Audiards Inszenierung. Audiards Inszenierung gibt seinen Schauspielenden den Raum, ihre Figuren auszuleben, ohne sie in den visuellen und narrativen Exzessen des Films zu verlieren. Dennoch bleibt das Drehbuch nicht ohne Schwächen: Einige Nebenhandlungen wirken unausgereift, und die Darstellung von Transgender-Themen – obwohl ambitioniert – kratzt oft nur an der Oberfläche, was nicht gänzlich unproblematisch ist.
So kann man zurecht monieren, dass die Darstellung der Transition in Teilen stereotyp wirkt und stellenweise das Gefühl vermittelt, die Geschlechtsangleichung diene in erster Linie dem Plot-Twist. Es lässt sich aber auch nicht leugnen, dass der Film über weite Strecken einen Hang zur Überzeichnung pflegt und manches Klischee über Mexiko – von omnipräsenter Korruption bis zur übertriebenen Gefährlichkeit des Alltags – reproduziert. Diese Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und ironischer Brechung gelingt nicht immer.
Statt eines bedrückenden Einblicks in Gewalteskalationen und kriminelle Strukturen bleibt das Ganze oft eine bildgewaltige Show, die zwar eindrucksvoll inszeniert ist, jedoch inhaltlich wenig Feinzeichnung betreibt. Der Film lotet Grenzen aus, indem er Kartell-Grausamkeiten in rauschhafte Tanzszenen überführt und Transgender-Themen eine Bühne gibt, ohne dabei auf langatmige Belehrungen zu setzen. Dennoch bleibt offen, wie nachhaltig die Botschaften und Wertungen bei den Zuschauenden ankommen, da mancher Spannungsmoment im Ballast allzu vieler Handlungselemente versickert.
Fazit:
„Emilia Pérez“ besticht mit einer gewagten Mischung aus Gangsterfilm und Musical, die gleichermaßen überrascht wie fasziniert. Trotz erzählerischer Schwächen überzeugt das Werk durch die beeindruckenden Hauptdarstellerinnen und seine visuelle wie vor allem musikalische Wucht. Wer sich auf die ungewöhnliche Inszenierung einlässt, wird mit einem sehr originellen Kinoerlebnis belohnt.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 28. November 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „Emilia Pérez“:
Genre: Drama, Musical, Thriller
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 133 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Jacques Audiard
Drehbuch: Jacques Audiard
Besetzung: Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und viele mehr ...
Trailer zu „Emilia Pérez“:
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