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Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama

In ihrem neuen Film „Ellbogen“ bringt Aslı Özarslan die ergreifende Geschichte einer jungen Berlinerin mit Migrationsgeschichte auf die große Leinwand, die sich in der Gesellschaft verloren fühlt – basierend auf dem gleichnamigen Buch von Fatma Aydemir. Lohnt sich die Romanverfilmung?


Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama
Bildnachweis: © jip film & verleih

Die deutsch-türkische Filmemacherin Aslı Özarslan ist vor allem durch ihre beeindruckenden Dokumentarfilme bekannt, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen. Ihre feinfühlige Herangehensweise und ihr engagierter Blick auf komplexe soziale Fragen haben sie zu einer wichtigen Stimme im Kino gemacht. Nach dem Erfolg ihres Dokumentarfilms „Dil Leyla“ wagt sich Özarslan nun an die Verfilmung eines Romans, der bereits für Aufsehen gesorgt hat: „Ellbogen“ von Fatma Aydemir.


Der Roman „Ellbogen“, der 2017 erschien, behandelt zentrale Themen wie Migration, Identität und die schwierige Balance zwischen verschiedenen Kulturen. Er erzählt die Geschichte von Hazal Akgündüz, einer jungen Deutschtürkin, die in Berlin aufwächst und sich zwischen den Erwartungen ihrer Familie und der deutschen Gesellschaft hin- und hergerissen fühlt. Der Film setzt genau hier an und beleuchtet Hazals Suche nach Zugehörigkeit in einer Welt, die ihr wenig Raum für ihre eigene Identität lässt.


Darum geht es:


Hazal sehnt sich nach Freiheit, dem endlosen Gefühl, endlich aus den erdrückenden Ketten der Job-Center-Maßnahme herauszukommen. Ihre zahlreichen Bewerbungen enden im Nichts und sie fühlt sich in einem trostlosen Alltag gefangen. Als ihr 18. Geburtstag naht, sehnt sie sich danach, ihre Sorgen für einen Moment zu vergessen und mit ihren Freundinnen einfach ausgiebig zu feiern. Doch der Türsteher des angesagten Clubs verweigert ihnen den Eintritt und auf dem Heimweg eskaliert Hazals Wut in einem hitzigen Streit mit einem überheblichen Studenten.


Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama
Bildnachweis: © jip film & verleih

Die aufgestaute Wut und Verzweiflung, gespeist von endloser Ablehnung, entlädt sich in einem dramatischen Vorfall, der Hazal in eine ausweglose Situation bringt. In einem verzweifelten Versuch, dem Albtraum zu entfliehen, flieht sie nach Istanbul – eine Stadt, die sie nur aus Erzählungen kennt und die ihr jetzt wie ein rätselhaftes Labyrinth erscheint. Völlig allein und ohne jede Sicherheit muss Hazal lernen, sich in der unbekannten Metropole durchzuschlagen.


Die Rezension:


Aslı Özarslans „Ellbogen“ ist ein eindringlicher Coming-of-Age-Film, der sich mutig in den komplexen Gefilden der postmigrantischen Gesellschaft bewegt. Der Film setzt sich mit Fragen der Zugehörigkeit und Integration auseinander und spiegelt die Herausforderungen wider, die junge Menschen mit Migrationsgeschichte in einem zwischen den Kulturen zerrissenen Alltag erfahren. Durch die Perspektive der Protagonistin Hazal gelingt es der Regisseurin, ein faszinierendes und zugleich herausforderndes Porträt einer jungen Frau zu entwerfen, die in einem entscheidenden Moment ihres Lebens die Kontrolle verliert. Diese intensive Darstellung schafft es, trotz Hazals erschütternder Tat, Mitgefühl und Sympathie beim Publikum zu wecken.


Filmisch bietet „Ellbogen“ eine aufschlussreiche Analyse des Lebens einer jungen Frau, die sich zwischen den Stühlen der Identität bewegt, fasznierend verfilmt: Die Kamera bleibt durchgehend nah an Hazal, was eine bemerkenswerte Intimität und Unmittelbarkeit schafft. Die oft aus ihrer Perspektive gefilmten Szenen und der Einsatz der Handkamera verdeutlichen ihre innere Unruhe und die ständige Suche nach einem Platz in der Welt. Diese technische Nähe wird durch die ständigen engen Einstellungen und beweglichen Aufnahmen noch verstärkt, die dem Zuschauenden ein intensives Gefühl der Nähe zu Hazal und ihren Emotionen geben. Die harte Schnittrhythmik und die dynamische Kameraführung unterstützen die Darstellung von Hazals Wut und Frustration auf eindrucksvolle Weise. Doch die kontinuierliche Nähe zur Protagonistin kann gelegentlich auch das Gefühl einer einseitigen Betrachtung hervorrufen und lässt wenig Raum für andere Perspektiven.


Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama
Bildnachweis: © jip film & verleih

Hazals Alltag ist geprägt durch die eindringliche Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Ausländerfeindlichkeit, die Darstellung des Alltagsrassismus ist im Film stellenweise erschreckend realistisch. Szenen wie die herablassende Bemerkung eines Security-Manns, der Hazal an die Regeln in Deutschland erinnert, oder das Jobgespräch, bei dem ihre Qualifikationen hinterfragt und ihre Einstellung allein aufgrund der Firmenpolitik erfolgen, machen deutlich, wie tiefgreifend und systematisch Vorurteile und Diskriminierung in der Gesellschaft verankert sind. Diese authentische Darstellung zeigt nicht nur die persönlichen Herausforderungen der Protagonistin, sondern spiegelt auch weitverbreitete gesellschaftliche Vorurteile wider.


Zusätzlich zur Thematisierung des Alltagsrassismus wird im Film auch der Klassismus, wie es der Titel mit einer Ellbogen-Gesellschaft allegorisch andeutet, scharf kritisiert. Der Film bietet eine kraftvolle Gegenperspektive zu gängigen Aussagen wie „Du musst dich einfach nur anstrengen“ oder „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und deckt auf, wie tief verwurzelt soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ist. Durch Szenen, in denen Hazal aufgrund ihrer sozialen Schicht und ihres äußeren Erscheinungsbildes verdächtigt wird, verdeutlicht der Film, dass Klassismus und Vorurteile stark miteinander verknüpft sind und oft dazu führen, dass Menschen aufgrund ihrer sozialen Stellung benachteiligt werden. Im Vergleich zum detaillierten Romanalltag konzentriert sich die filmische Adaption im ersten Drittel auf die essenziellen Erfahrungen von Hazal und reduziert die Darstellung der Berliner Realität zugunsten der pulsierenden Atmosphäre der Hauptstadt.


Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama
Bildnachweis: © jip film & verleih

Der Wechsel von Hazals Perspektivlosigkeit in Berlin zur Heimatlosigkeit in Istanbul zeigt ihren Charakter im weiteren Verlauf aus einer neuen Perspektive, die der Geschichte eine universelle Wirkung verleiht. Die kontrastreiche Darstellung Istanbuls und die detaillierte Beobachtung der dortigen Lebensweise ermöglichen es, die kulturellen Unterschiede und Herausforderungen, denen Hazal gegenübersteht, intensiv zu erleben. Ihre Unsicherheit und die Schwierigkeiten, sich in der türkischen Gesellschaft zurechtzufinden, werden durch die Interaktion mit den Menschen in Istanbul deutlich, die ihre Herkunft und Unkenntnis über politische und kulturelle Themen kommentieren. Dies verstärkt die Thematik der Entfremdung und Identität und reflektiert die Schwierigkeiten, die eine migrantische Identität in einem sich verändernden sozialen Umfeld mit sich bringt.


Melia Kara bringt Hazals jugendliche Rebellion und Trotzigkeit authentisch zum Leben. Trotz der Ambivalenz und der Momente, in denen Hazals Handeln schwer nachvollziehbar erscheint, zieht ihre Darstellung in den Bann.  Ihre Bewegungen und Mimik wirken echt und lebensnah, die Sprache authentisch. Kara verleiht der Figur eine vielschichtige Authentizität, die es ermöglicht, sich sowohl mit ihr zu identifizieren als auch ihre Entscheidungen zu hinterfragen. Hazal ist ein faszinierendes Porträt eines Menschen, der sich weder dem deutschen noch dem türkischen Stereotyp anpasst und sich in beiden Gesellschaften schwer integriert. Sie steht zwischen den Stühlen und ist aus dem gesellschaftlichen System ausgegrenzt, findet keinen Ort, an dem sie wirklich hingehört. Die als Laie von der Straße gecastete Kara spielt Hazals inneres Chaos mitreißend, auch wenn jeder vermutete Ausweg wieder in eine weitere Sackgasse führt.


Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama
Bildnachweis: © jip film & verleih

„Ellbogen“ ist eine überaus gelungene filmische Adaption, die jedoch dennoch etwas unter den unvermeidlichen Verlusten leidet, die bei der Übertragung eines Romans auf die große Kinoleinwand oft auftreten, da es einige Buchaspekte nicht in den mit 90 Minuten Spielzeit äußerst kurzweiligen Film geschafft haben. Doch auch wenn das komplexe Verhältnis zwischen Hazal und ihrer Mutter Sultan nur zwei Szenen erhielt, bleibt ihre emotionale Distanz spürbar. Das Fehlen von Hazals Bruder Onur, dem cholerischen Vater und dem Drogendealer Eugen ist auch nicht tragisch; bedauerlich ist jedoch, dass der politische Konflikt des Romans sehr stark minimiert wurde, was dem Finale an Wucht nimmt.


Während das packende Ende des Buchs mit dem Putschversuch in der Türkei 2016 kulminiert, wählt der Film einen anderen Weg, der ihm ein offenes, nachdenkliches Ende verleiht. Dies mag weniger dramatisch sein, regt jedoch möglicherweise länger zum Nachdenken an. Trotz dieser Auslassungen gelingt es Aslı Özarslan jedoch, den wesentlichen Kern der Geschichte zu bewahren und die ruppige, widerständige Atmosphäre der Vorlage einzufangen. Denn „Ellbogen“ ist definitiv kein Film für Zartbesaitete; die Wut und Verzweiflung, die sich in Hazal aufstauen, übertragen sich intensiv auf das Publikum.


Kritik zu „Ellbogen“: Intensives Coming-of-Age-Drama
Bildnachweis: © jip film & verleih

Özarslan gelingt es, die Verzweiflung der Protagonistin und die Ungerechtigkeiten, die sie erlebt, auf eine Weise darzustellen, die noch lange nach dem Ende des Films nachhallt. Das Bild von Hazal, die am Ende des Films herausfordernd in die Kamera blickt, symbolisiert ihren verzweifelten Kampf um Selbstbestimmung in einer Welt, die ihr sowohl in Deutschland als auch in der Türkei unnachgiebig gegenübersteht.


„You have to decide who you are and force the world to deal with you, not with its idea of you“

Fazit:


Die Wut und Frustration der Protagonistin, kombiniert mit den kraftvollen Bildern und der intensiven Erzählweise, machen den Film zu einem eindringlichen Erlebnis. Wenn auch nicht alle Nuancen der Buchvorlage in der Adaption erhalten bleiben, so gelingt es dem Film doch, ein bewegendes und aufwühlendes Bild von Hazals Kampf und ihrer verzweifelten Suche nach einem Platz in der Welt zu zeichnen.


7 von 10 Punkten


>>> STARTTERMIN: Ab dem 5. September 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu Ellbogen:

Genre: Drama

Produktionsjahr: 2023

Laufzeit: 90 Minuten

Altersfreigabe: FSK 16


Regie: Aslı Özarslan

Drehbuch: Claudia Schaefer, Aslı Özarslan

Besetzung: Melia Kara, Doga Gürer, Jale Arikan und viele mehr ...


Trailer zu Ellbogen:


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