Eine Pistole, die verschwindet, ein Land in Unruhe und eine Familie, die sich zwischen Angst und Aufbegehren wiederfindet. Mohammad Rasoulofs „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ führt mitten hinein in den Hexenkessel einer Gesellschaft.
Mohammad Rasoulof ist ein Filmemacher, der weit über die Grenzen seines Heimatlandes Iran hinaus für Aufsehen sorgt – nicht nur wegen seiner künstlerischen Kraft, sondern auch wegen seines unbeugsamen Mutes. Seit Jahren trotzt er den strengen Zensurgesetzen und der Verfolgung durch die iranischen Behörden, indem er Filme dreht, die mit ungeschöntem Blick die politischen und gesellschaftlichen Missstände seines Landes offenlegen. Werke wie „Manuscripts Don't Burn“ und „A Man of Integrity“ haben ihn zu einem der bedeutendsten kritischen Stimmen des iranischen Kinos gemacht.
Spätestens mit „There is No Evil“ und dem Gewinn des Goldenen Bären 2020 wurde er weltweit bekannt – und zur Zielscheibe der Regierung. Sein neuester Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ entstand daher auch unter Bedingungen, die fast schon einem Spionage-Thriller gleichen. In Geheimhaltung gedreht, mit einem kleinen Team an verborgenen Orten, war die Produktion nicht nur ein Akt der künstlerischen Schöpfung, sondern auch des Widerstands. Der Film wurde außer Landes geschmuggelt und hierzulande in der Postproduktion fertiggestellt, weshalb er auch für Deutschland ins Oscar-Rennen geht.
Im Mai 2024 wurde bekannt, dass Rasoulof aufgrund seiner kritischen Haltung und der Arbeit an diesem Film zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt werden sollte. Doch anstatt sich der Inhaftierung zu stellen, entschied er sich zur Flucht, und der Film konnte trotz aller Verhinderungsversuche des Irans mit seiner Anwesenheit bei den 77. Filmfestspielen von Cannes seine Premiere feiern, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde. Der Großteil der an diesem Film beteiligten Menschen lebt nun gezwungenermaßen im Exil, einige konnten das Land nicht verlassen. Mit diesem Wissen wird es aber auch unmöglich, den Film losgelöst von der außergewöhnlichen Entstehungsgeschichte zu betrachten.
Darum geht es:
Iman, frisch beförderter Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran, gerät in den Strudel einer eskalierenden Protestbewegung, die das Land nach dem Tod einer jungen Frau erschüttert. Während das Regime mit eiserner Hand zurückschlägt, stellt sich Iman auf die Seite der Machthaber – doch der Preis dafür ist hoch. In den Schatten seines Hauses wächst die Unruhe: Seine Töchter Rezvan und Sana sehen in den Protesten Hoffnung, während seine Frau Najmeh verzweifelt versucht, die Familie vor dem Zerbrechen zu bewahren. Als Iman eines Morgens seine Dienstwaffe vermisst, beginnt er zu zweifeln – ist er in den eigenen vier Wänden noch sicher?
Die Rezension:
Mohammad Rasoulofs „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ entfaltet sich als vielschichtiges Drama, das tief in die komplexen sozialen und politischen Geflechte des Iran eintaucht. Bereits zu Beginn fesselt die düster-dramatische Klangkulisse von Karzan Mahmood das Publikum, als Patronen auf einen Tisch fallen – ein subtiler Hinweis auf die zentrale Symbolik der Waffe im gesamten Werk. Diese Pistole, die im Verlauf des Films immer wieder ins Bild gerückt wird, dient nicht nur als physisches Objekt, sondern auch als Allegorie für die allgegenwärtige Gefahr und Gewalt, die im Iran unter dem strengen Regime herrscht. Rasoulof nutzt hier geschickt Anton Tschechows berühmtes Prinzip, dass jedes eingeführte Element eine Bedeutung bis zum Finale trägt, wodurch die Waffe zu einem unverzichtbaren Bestandteil der narrativen Struktur wird.
Der Film gliedert sich in zwei kontrastierende Hälften, die durch den suggestiven Titel „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ thematisch miteinander verbunden sind. Der Filmtitel verweist in metaphorischer Weise auf einen parasitär wachsenden Feigenbaum, dessen Samen durch Vögel verbreitet werden und sich in den Kronen anderer Bäume einnisten, um diesen Wirt letztendlich zu ersticken. Das Spiel mit diesem naturbezogenen Symbol beschreibt eindrücklich ein toxisches System, das einerseits die Angehörigen des Staates in einen festen Würgegriff nimmt und andererseits das Potenzial zum inneren Zusammenbruch schon in sich trägt. Rasoulof inszeniert diese Ambivalenz, indem er in einer ersten Filmhälfte ein Familiendrama entfaltet, in dem die Eltern – keine glühenden Fanatiker, sondern pflichtbewusste Staatsdiener – aus Sorge um ihren eigenen Lebensstandard sowohl gewollt als auch unwillkürlich zum Rädchen des Repressionsapparats werden.
Die jugendlichen Töchter, die völlig anders denken und nicht bereit sind, blind zu folgen, stehen dem weltfremden Konservatismus des Vaters zunehmend kritisch gegenüber. In seinen besten Momenten entfaltet der Film eine sehr beklemmende Atmosphäre, in der jeder Raum und jeder Blick stumm von nicht ausgesprochener Gewalt zeugen. Die ersten 90 Minuten bestehen größtenteils aus Dialogen und Innenaufnahmen, was offenbar nicht nur dramaturgische, sondern auch praktische Gründe hatte: Rasoulof musste ohne offizielle Drehgenehmigung arbeiten und nutzte deshalb vornehmlich enge Orte, in denen das Filmen leichter zu verbergen war. Dabei setzt Kameramann Pooyan Aghababaei auf eine minimalistische Beleuchtung und eine kammerspielartige Ästhetik, die das Gefühl von Enge und Überwachung verstärkt. Gelegentlich streut der Regisseur irritierende Zwischenschnitte ein: mal gespenstische Gestalten in Bürofluren, mal scheinbar endlos hohe Mauern, die an einen Kerker erinnern.
Diese Sinnbilder sind zwar deutlich, aber nie plump, denn sie reflektieren die Realität in einem Land, in dem staatliche Kontrolle, Online-Zensur und starre Bekleidungsvorschriften nach wie vor allgegenwärtig sind. Spätestens hier lässt sich erahnen, dass der Film zugleich eine Parabel auf die Ängste und Einschränkungen ist, mit denen Frauen im Iran tagtäglich leben müssen – nicht nur seit 2022, aber seitdem intensiver denn je. Nach etwa eineinhalb Stunden schlägt der Film einen überraschenden Richtungswechsel ein und wird von einem ruhigen, psychologisch dichten Familiendrama zu einem temporeichen Politthriller. Man könnte dies als Bruch bezeichnen, zumal die zweite Hälfte deutlich mehr Action, Verfolgungsjagden und körperliche Gewalt zeigt.
Die dichte Atmosphäre der ersten Hälfte weicht nun phasenweise eher spektakulären Momenten, die man womöglich als überzogen empfinden könnte. Doch dieser Umschwung ist nicht ohne Grund: Er illustriert die Zuspitzung einer Situation, in der jede Lüge und jede Unterdrückungsmaßnahme irgendwann ein explosives Ventil findet. Wie bei der Revolution der Frauen von 2022, die anfangs vor allem auf sozialen Medien für Furore sorgte und schließlich massenhaft Menschen auf die Straßen brachte, will Rasoulof offenbar zeigen, dass unter dem dünnen Deckmantel der Ordnung jederzeit eine kollektive Eruption droht. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass die zweite Filmhälfte an einigen Stellen weniger Nuancen und mehr plakative Symbole bietet. Dies kann man als dramaturgische Schwäche oder als bewusste stilistische Entscheidung interpretieren. Einerseits wirkt die Figurenzeichnung mitunter eindimensional, andererseits fungiert eben diese Zuspitzung als effektvolle Parabel darauf, wie totalitäre Systeme das Private und das Politische unauflöslich miteinander verflechten.
Das politische Establishment erwürgt im übertragenen Sinn nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die familiären Bindungen, was sich besonders in den Konfrontationen zwischen Vater Iman und seinen Töchtern eindrucksvoll zeigt. So betrachtet leistet das Drehbuch einen Beitrag, um die zerstörerische Wirkung einer ideologisch motivierten Machtausübung zu verdeutlichen – ein wichtiger Pro-Aspekt für ein Werk, das nicht nur auf Spannungsbögen, sondern auch auf strukturelle Analyse setzt. Was den Realitätsbezug angeht, so lassen vor allem die eingeflochtenen Originalaufnahmen von Demonstrationen aus dem Jahr 2022 aufhorchen.
Diese Sequenzen dokumentieren die Härte, mit der Polizei und Sicherheitskräfte gegen protestierende Frauen vorgingen, die nach dem Tod von Mahsa Amini lautstark „Frau, Leben, Freiheit“ (Jin, Jiyan, Azadî) forderten. Die Wucht dieser Bilder überträgt sich auf die Spielfilmhandlung: Während Iman als Untersuchungsrichter zwischen seiner Rolle als Familienvater und Staatsbeamter gefangen ist, formieren sich die jungen Frauen im Umfeld der Familie zu einer Art Mikro-Widerstand. Genau darin liegt die Stärke des Films: Er zeigt, wie jedes politische Ereignis unweigerlich persönliche Dimensionen annimmt. Die ambivalente Charakterzeichnung, die symbolkräftige Geschichte und die gezielt eingebauten Originalvideos ergeben ein Werk, das einerseits universell verständlich ist und andererseits tiefe Einblicke in eine konkrete politische Gegenwart gewährt.
„Die Saat des heiligen Feigenbaums“ tritt somit nicht nur als spannungsreiches Familiendrama auf, sondern fungiert zugleich als kritischer Spiegel für die unerbittlichen Strukturen eines autokratischen Systems. Rasoulofs Verknüpfung von Paranoia-Thriller, politischer Allegorie und tiefgehendem Familiendrama hat ohne Zweifel Ecken und Kanten, doch gerade diese wirken authentisch und rücken das Geschehen unangenehm nah an die Realität. Ob der Film damit zurecht als deutsche Einreichung für den Auslands-Oscar ausgewählt wurde, lässt sich diskutieren – manches wirkt vielleicht konstruiert, vieles aber auch bedrückend stimmig.
Fazit:
Mohammad Rasoulof entfaltet in „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ein beklemmendes Familiendrama, in dem staatlicher Druck und das schwelende Aufbegehren der Frauen aufeinanderprallen. Es ist ein eindringliches Bild einer Gesellschaft, die sich selbst untergräbt. Es ist ein Film, der uns vor Augen führt, wie zerstörerisch ein repressives System auf das engste Gefüge – die Familie – wirken kann.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 26. Dezember 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „Die Saat des heiligen Feigenbaums“:
Genre: Drama, Thriller
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 167 Minuten
Altersfreigabe: FSK 16
Regie: Mohammad Rasoulof
Drehbuch: Mohammad Rasoulof
Besetzung: Missagh Zareh, Soheila Golestani, Mahsa Rostami und viele mehr ...
Trailer zu „Die Saat des heiligen Feigenbaums“:
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